Nach: Nossrat Peseschkian (2005): Steter Tropfen höhlt den Stein. Mikrotraumen – das Drama der kleinen Verletzungen. Fischer Verlag.
„Steter Tropfen höhlt den Stein.“
Was steckt hinter diesem Wort „Mikrotraumen“? Mikrotraumen sind bestimmte Erfahrungen, die uns seelisch zutiefst berühren, uns runterziehen, unglücklich machen und blockieren können.
Meistens sind es nicht die großen seelischen Verletzungen, so genannte Makrotraumen (wie Fremdgehen, Tod eines Kindes, schwere Krankheit,…), die eine Ehe zerstören. Sondern es sind die kleinen dummen Angewohnheiten, Nadelstiche, eigentlich eine Kette von Banalitäten, die lange unter der Decke schlummern und dann plötzlich eine zerstörerische Kraft entwickeln können.
Wie Mikrotraumen in unsere Beziehung wirken, verdeutlicht auch die nachstehende Geschichte von den Mammutbäumen:
Die Mammutbäume, die Riesen des Waldes, überleben Generationen von Menschen. Kein Sturm, kein Hagel, kein Blitzschlag kann ihnen etwas anhaben. Ja, selbst Feuer und Erdbeben haben sie überstanden. Sie stehen Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, ganze Jahrhunderte und trotzen den Unbilden der Natur in ihrer mächtigen Gestalt. Es scheint, als könne nicht diese Giganten zu Fall bringen. Doch es gibt kleine, winzige Insekten, die Termiten, die kommen und beginnen, den Baum mit winzigen Bissen nach und nach zu zerfressen. Und schließlich schaffen diese vielen kleinen Winzlinge das, was keine Naturkatastrophe vermag: Sie bringen den Riesen zu Fall.
Mikrotraumen verursachen empfindliche und schwache Stellen, die ein andauernder Herd für Auseinandersetzungen sein können. Vielleicht kennt ihr folgende Aussagen von euch/eurer/eurem Partner*in. Sie weisen darauf hin, dass ein Mikrotrauma zugrunde liegt:
„Was soll ich da noch machen? Damit muss ich mich halt abfinden.“
„Das ist doch immer dasselbe.“ „Lange halte ich das nicht mehr aus.“
„Das habe ich dir doch schon 100 mal gesagt.“ „Das regt mich schon immer auf.“
„Was soll sich da noch ändern? Das geht doch schon ewig so.“
„Darunter leide ich schon immer.“
„Das bringt doch auch gar nichts mehr.“
Das Gegenüber ist dabei oft verwundert, da das Geschehene doch nur eine „Lappalie“ ist und hat das Gefühl, dass aus einer Mücke ein Elefant gemacht wird.
Schaut euch doch mal folgenden Sketch von Loriot an und überlegt, welche Mikrotraumen bei diesem Ehepaar vorhanden sind:
(Eine kleine Auswahl: Die Frau ist genervt von der ständigen Klugscheißerei ihres Mannes. Sie hat außerdem das Gefühl, dass er ihr nichts zutraut und sie nie etwas alleine machen kann. Zudem mag sie es nicht, wenn er sich auch zu Hause aufführt als wäre er der Chef wie bei der Arbeit.)
Was machen wir denn nun mit diesen Mikrotraumen? In jeder Beziehung gibt es Mikrotraumen, keine Frage. Je reifer eine Beziehung ist, desto mehr verlieren Mikrotraumen ihre zerstörerische Kraft. Deshalb ist es im Umgang mit Mikrotraumen wichtig, diese bei sich selber zu erkennen, diese wenn möglich zu vermeiden und lernen damit umzugehen.
Das Thema kommt aus der positiven Psychologie. In dem Begriff steckt schon die Annahme, dass es irgendwas Positives an Mikrotraumen geben muss: Reibung erzeugt Wärme. Auch in Beziehungen.
Wir wollen hier ein bisschen auf die Positive Psychologie eingehen, die im Wesentlichen aus 3 Säulen besteht.
1. Säule: Jeder Mensch ist seinem Wesen nach gut.
Jeder Mensch besitzt in unterschiedlicher Ausprägung zwei Grundfähigkeiten. Zum einen die Liebesfähigkeit: Man ist fähig geliebt zu werden und zu lieben. Dazu gehören alle primären Fähigkeiten wie Vorbild sein, Geduld, Zeit, … Zum anderen die Erkenntnisfähigkeit: Man ist fähig zu lernen und zu lehren. Dazu gehören die sekundären Fähigkeiten wie Zuverlässigkeit, Sparsamkeit, Pünktlichkeit,… Zusammen bezeichnet man diese Fähigkeiten als Aktualfähigkeiten.
Jetzt kommt eine kleine Arbeitseinheit für euch: Schätzt euch und eure*n Partner*in ein. Jede*r von euch füllt die Tabelle für sich aus mit den unterschiedlichen Ausprägungen. Beantwortet anschließend die untenstehenden Fragen. Wenn ihr beide damit fertig seid, tauscht euch aus und unterhaltet euch (Achtung: Die ausgefüllte Tabelle könnte für Zündstoff sorgen!).
Oftmals ist euer Konfliktpotenzial in eurer Unterschiedlichkeit begründet.
2. Säule: Jeder Mensch kann sich verändern.
Warum sind wir denn, wie wir sind? Das ist eine wichtige Frage, um uns selber zu verstehen und zu lernen mit uns umzugehen. Unsere Herkunft spielt hier eine große Rolle und ist maßgeblich mit unserem Elternhaus verbunden. Unserem aktuellen (Beziehungs-)Konflikt liegt meist ein Grundkonflikt zugrunde, der uns geprägt hat. Man spricht dabei von den vier Vorbilddimensionen.
Wie sind die Eltern mit ihren Kindern umgegangen? Wie sind die Eltern miteinander umgegangen? Wie haben sie ihre Kontakte außerhalb gepflegt? Welche weltanschaulichen/religiösen Vorstellungen lagen ihrem Zusammenleben zugrunde? Um sich und auch den/die Partner*in besser zu verstehen, hilft es, einen Blick auf solche Fragen zu werfen.
Bearbeitet nun die Fragen auf der 2.Seite und tauscht euch danach wieder aus.
3. Säule: Jeder Mensch besitzt die Ressourcen seiner Veränderung.
Wie schon erwähnt ist es ein Schlüssel, Mikrotraumen und deren Trigger zu erkennen und um die Herkunft zu wissen. Was dann? Es macht natürlich Sinn, die/den Partner*in darüber zu informieren, dass man hier und da ein Mikrotrauma hat. Manchmal ist es der/dem Andere*n gar nicht bewusst und.
Dennoch wissen wir alle: Wir können leider unsere/n Partner*in nicht verändern (auch wenn wir es immer wieder versuchen). Wir können nur uns selbst verändern! Ein wichtiges, sehr herausforderndes Tool der positiven Psychologie ist die positive Umdeutung. Was kann ich Positives ziehen aus der scheinbar schlechten Eigenschaft meiner/meines Partner*in?
Hier zwei Beispiele:
Die Ungeduld meiner Partnerin hat den Vorteil, dass sie meist tatkräftig voranschreitet um ihr Ziel zu erreichen. Deshalb kommt sie häufig auch schnell zum Ziel.
Die Unpünktlichkeit meines Partners ist ein Ausdruck dessen, dass er im Hier und Jetzt lebt, achtsamer ist, auf seine eigenen Bedürfnisse achtet, sich nicht so schnell stressen lässt und gelassener ist.
Schon alleine die Theorie ist anspruchsvoll, in der Praxis, in einem Moment, in dem ich mich an mein Mikrotrauma erinnert fühle, ist es noch schwieriger (aber nicht unmöglich sondern trainierbar!), eine positive Umdeutung zu vollziehen.
Überlegt nun für euch: Was ist euer wohl größtes Mikrotrauma? Worüber regt ihr euch meistens aus? Was nervt euch so richtig? Schreibt es in den Kasten auf eurem Paper und überlegt euch anschließend eine positive Umdeutung dafür.
Ob ihr euch darüber austauscht am Ende, bleibt euch überlassen.
Wir wissen: Es ist herausfordernd und auch wir sind da in einem Lernprozess. Wir glauben aber daran, dass es sich lohnt, unsere Mikrotraumen zu bearbeiten, sodass sie an zerstörerischer Kraft verlieren und unserer Beziehung nichts anhaben können.
Habt einen guten Abend, seid gnädig miteinander und nehmt euch nach einer hitzigen Diskussion in den Arm.
Alles Liebe von Jasmin und Simon